M. Cattaruzza: L’Italia e la questione adriatica

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Titel
L’Italia e la questione adriatica. Dibattiti parlamentari e panorama internazionale (1918–1926)


Autor(en)
Cattaruzza, Marina
Reihe
Dibattiti storici in Parlamento. Collana dell’Archivio Storico del Senato della Repubblica 4
Erschienen
Bologna 2014: Il Mulino
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Carlo Moos, Historisches Seminar, Neuzeit, Universität Zürich

Das umfangreiche Werk widmet sich einem wesentlichen Konfliktpunkt in der verunglückten Friedensregelung nach dem Ersten Weltkrieg, jenem der Fiume und Dalmatien betreffenden Grenzen im Adria-Raum zwischen Italien und dem neu gebildeten Südslawenstaat, deretwegen im Juni 1919, Juni 1920 und Juni 1921 die italienischen Regierungen Orlando, Nitti und Giolitti stürzten. Der Band besteht zu etwa einem Drittel aus einer kenntnisreichen Einleitung der unlängst emeritierten Berner Neuzeit-Professorin Marina Cattaruzza und zu rund zwei Dritteln aus einem Quellenteil mit Auszügen aus verschiedenen parlamentarischen Voten zum Konflikt.

Die Einleitung ist in sechs vornehmlich anhand einschlägiger Debatten in Deputiertenkammer und Senat erarbeitete Kapitel gegliedert. Sie handeln von Kriegsende, Friedenskonferenz und Sturz der Regierung Orlando (1), von Gabriele D’Annunzios folgenreichem «Marsch auf Fiume» im September 1919 (2), vom italienisch-jugoslawischen Rapallo-Vertrag vom November 1920 (3), von der Zeit unmittelbar nach diesem Vertrag mit dem Ende des D’Annunzio-Abenteuers und Giolittis innenpolitischem Scheitern (4) und von der wegen der französischen Konkurrenz und Albanien nur kurzen Idylle in den Beziehungen der zwei Staaten während der ersten Regierungsjahre Mussolinis, als die Stadt Fiume dank den Römer Abkommen vom Januar 1924 italienisch wurde (5); darauf folgen noch einige abschliessende Betrachtungen zur Opposition Wilsons gegen die italienischen Forderungen und zur Nachkriegskrise des Landes (6).

Die im Wesentlichen diplomatiegeschichtliche Einleitung behandelt den gesamten Zeitraum zwischen 1918 und 1926 detailliert, aber ungleich ausführlich. Die italienische Nachkriegskrise wird als ganze aufgerollt, einschliesslich Mussolinis Machtergreifung und ihrer Folgen; ein klarer Schwerpunkt liegt aber auf den Jahren 1918 bis 1920. Eindrücklich herausgearbeitet werden vor allem die Gegensätzlichkeiten in der Nachkriegspolitik des Königreichs, das – wie jedenfalls Ministerpräsident Nitti am 8. Dezember 1919 im Senat festhielt – freiwillig und aus ideellen Gründen in den Krieg eingetreten war (S. 100), nach dessen Ende aber hartnäckig auf den territorialen Forderungen beharrte, die von der Entente im Londoner Vertrag vom April 1915 zugestanden worden waren. In diesem Kontext wies am 28. Dezember 1919 Armeegeneral Di Robilant, der D’Annunzios Marsch auf Fiume hätte verhindern wollen, im Senat auf den eklatanten Widerspruch hin, dass man nicht gestützt auf das Selbstbestimmungsrecht Fiume und als Erfüllung des Londoner Geheimvertrags Dalmatien verlangen könne (S. 371).
Letztlich gründete Italiens verhängnisvolles Nachkriegs-Malaise darin, dass es kraft seiner im Krieg erbrachten Opfer gleichberechtigt neben den anderen Grossmächten USA, Grossbritannien und Frankreich zu stehen beanspruchte, was von diesen (in italienischer Optik vornehmlich wegen des jugoslawisch orientierten US-Präsidenten Wilson) indessen nicht so gesehen wurde. Die nationale Frustration, die sich in der von D’Annunzio geprägten Metapher von der «vittoria mutilata» ausdrückte, gehört denn auch zu den wesentlichsten Gründen für Mussolinis Machtergreifung. Selber sollte er mit seinen Korrekturversuchen allerdings weit über das Ziel hinausschiessen.
Der fast 400-seitige informative Quellenteil ist vom Team des Archivio storico des italienischen Senats bearbeitet worden (dessen Mitarbeit auch bei den Anmerkungen zur Einleitung anzunehmen ist) und bringt umfangreiche Auszüge aus den bedeutendsten parlamentarischen Reden zur «questione adriatica», die 1919 zwischen der Friedenskonferenz und dem Fiume-Unternehmen sowie Ende 1920 zur Ratifizierung des Rapallo-Vertrags gehalten wurden. Neben Ausführungen der involvierten Ministerpräsidenten Vittorio Emanuele Orlando und Francesco Saverio Nitti sowie der Aussenminister Tommaso Tittoni, Vittorio Scialoja und Carlo Sforza stechen vor allem ausgewählte Opponenten heraus, so seitens der nationalistischen Rechten etwa Luigi Federzoni, für den das heterogene Jugoslawien aus dem verbündeten Serbien aber ebenso aus den einstigen kroatischen und slowenischen Feinden bestand (26.11.1920, S. 447ff. u. 460). Seitens der politischen Linken beeindrucken die Äusserungen des Historikers und demokratischen Interventisten Gaetano Salvemini und jene des Sozialisten Filippo Turati durch wohltuende Besonnenheit. So kritisierte Turati am 28. September 1919 in der Kammer die auf die Geschichte und das Selbstbestimmungsrecht gestützte Forderung nach Fiume, während man selbiges den Deutschen im Tirol und den Slowenen in Istrien vorenthalte; und während der Londoner Vertrag für Fiume nicht herhalten könne, berufe man sich für Dalmatien auf ihn (S. 296). Salvemini wies seinerseits am 24. November 1920 darauf hin, dass Dalmatien zu beherrschen nur mit einem permanenten Repressionsapparat möglich wäre (S. 418).

Neben dem unbestreitbaren Wert der sehr fundiert präsentierten italienischen Perspektiven auf ein Gross-Thema der Friedenssuche nach dem Ersten Weltkrieg gäbe es freilich andere Sichtweisen, welche die im Buch besprochenen Stellungnahmen relativieren könnten, so etwa, dass die Zerstörung der Habsburgermonarchie nicht unbedingt als Ruhmesblatt der italienischen und europäischen Geschichte zu werten ist oder dass das Scheitern des von italienischer Seite zunehmend kritisierten Präsidenten Wilson einen schweren Schatten auf die Zwischenkriegszeit werfen sollte. Dass Überlegungen dieser Art nicht in den Band eingeflossen sind, dürfte nicht der Autorin, sondern der institutionellen Anbindung des Werks anzulasten sein.

Zitierweise:
Carlo Moos: Rezension zu: Marina Cattaruzza, L’Italia e la questione adriatica. Dibattiti parlamentari e panorama internazionale (1918–1926), Bologna: il Mulino, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 133-134.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 1, 2017, S. 133-134.

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